18. November 2022
Unter der Lupe

Kalender, Kalender!

von Hannah Landsmann
© JMW
Während das Jahr 5783 im jüdischen Kalender noch ganz am Anfang steht, neigt sich das 2022er dem Ende zu. Spätestens wenn die ersten Adventkalender-Türchen geöffnet werden, sollte man sich einen neuen Kalender organisieren, sofern man sich nicht auf das Digitale verlassen mag oder gerne schreibt. Mit handschriftlichen Einträgen in einen Kalender kommt zumindest ein bisschen das Gefühl auf, sich in seine Zeit einschreiben zu können.

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© Weiss
Dieses kleine Objekt ist eine Replik aus dem Museumsshop des Archäologischen Museums in Istanbul. Es handelt sich um den Kalender von Geser, das ist der etwa 50 Kilometer von Jerusalem entfernte Fundort, der aus dem 10. Jahrhundert vor der Zeitrechnung stammt und in althebräisch verfasst ist. Dieser Kalender kommt mit wenigen Zeilen aus und regelt die Zeit über die Natur, das Pflanzen und Ernten. Die Maße sind ebenfalls bescheiden: 11,1, x 7,6 cm.


Der jüdische Kalender entstand während des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Die Monate werden nach dem Mond berechnet und das Jahr nach der Sonne. Der auf der ganzen Welt gebräuchliche julianisch-gregorianische Kalender hat als Basis die Dauer eines Erdumlaufs um die Sonne. Sein Name leitet sich von Julius Cäsar ab, der dieses System einführte, und von Papst Gregor XIII, der es um 1580 endgültig ausarbeiten ließ. Mit den 365 Tagen entspricht das Kalenderjahr dem Sonnenjahr nicht genau, so dass alle vier Jahre ein zusätzlicher Tag eingeschoben wird. Ein Mondjahr hingegen beruht auf der Grundeinheit der Zeit von Neumond zu Neumond, das Mondjahr ist um elf Tage kürzer, sodass Fixpunkte wie Feiertage in andere Jahreszeiten fallen. Der muslimische Fastenmonat Ramadan kann ebenso gut in den Sommer wie in den Winter fallen.

Weil aufgrund der Bestimmungen der Tora das jüdische Pessach-Fest in den Frühling fallen muss, werden im jüdischen Kalender die beiden Systeme mit dem Einschub von elf Tagen zusammengeführt. In einem 19-jährigen Zyklus wird nach dem Monat Adar noch ein zusätzlicher Monat eingeschoben, der Adar II genannt wird. Ein solches Jahr wird als „schwangeres“ Jahr bezeichnet. Adar ist der sechste Monat im jüdischen Kalender und fällt in den Februar oder März.

Der Dichter und Philosoph Salomo ibn Gabirol, mit arabischem Namen Suleiman ibn Jachja, lebte im 11. Jahrhundert im maurischen Spanien und dichtete in „Krone des Königtums“:

Wer priese Dich zur Genüge
Da Du setztest den Mond ein Haupt in der Rechnung für Fest und Termin
Und Kehrzeit, in der Zeichnung von Tagen und Jahr
Seine Herrschaft die Nacht
Bis kommt die Zeit
Daß eindunkle sein Prunk
Und er sich hülle ins finstre Gewand:
Der Sonnenleuchte nur entleiht er doch sein Licht.
Dann ja – in vierzehnter Nacht
Wenn beide auf des Drachens Sehne stehn
Und er dazwischen tritt
Dann – läßt er nicht mehr schimmern sein Licht
Die Lampe erlischt. (...…)


Diese nicht ganz leicht deutbaren Zeilen beschreiben den Lauf des Mondes. Mit Neumond beginnt ein neuer Monat, der erste Tag heißt „Rosch chodesch“ und ist ein „kleiner“ Feiertag oder Halbfeiertag. Die Begrüßung des neuen Monats rührt aus einer Zeit, da die Gestirne und ihr Lauf am Himmel für den Menschen unerklärlich waren und als Gottheiten gedeutet wurden. Eine besondere Bedeutung erhielt Neumond zur Zeit des um 515 vor der Zeitrechnung gebauten Zweiten Tempels, als die Verkündung des Neumonds die Basis für die Fixierung der Feiertage im Kalender wurde. Der Kalender schuf natürlich auch ein wichtiges Band zwischen den Jüdinnen und Juden in Jerusalem und jenen in der Diaspora, die Zerstreuung der jüdischen Bevölkerung auf Gebiete außerhalb Jerusalems. Eine solche Diaspora existiert seit dem babylonischen Exil.


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© David Peters

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© JMW
Solange man den Neumond nicht astronomisch sicher berechnen konnte, versammelte sich der Ältestenrat am 30. Tag eines jeden Monats am Morgen. Zwei glaubwürdige Zeugen mussten bestätigen, die neue Mondsichel gesehen zu haben. Signalfeuer und berittene Boten verkündeten den Beginn des neuen Monats auch außerhalb von Jerusalem. Weil man nicht damit rechnen konnte, dass die Boten immer rechtzeitig zur Stelle sein konnten, wurde Rosch Chodesch zwei Tage gefeiert, was auch dazu führte, dass in den Diasporagemeinden bis heute ein zusätzlicher zweiter „Sicherheitstag“ mitgefeiert wird. Die einzige Ausnahme ist Jom Kippur, der ein langer Fasttag ist, also 25 Stunden Abstinenz von Essen und Trinken erfordert. 

Erst im Jahr 359 nach der Zeitrechnung und mit dem Patriarchen Hillel II. wurde der jüdische Kalender fixiert. Die babylonische Exilgemeinde war zu einer innerjüdischen Autorität geworden und machte der palästinischen in Jerusalem Konkurrenz. Das Judentum sollte auch ohne Land und ohne zentralem Heiligtum überlebensfähig bleiben und der Kalender half, es als „abstrakte“ Größe zu begreifen.

Seit der Staatsgründung Israels im Mai 1948 gelten der jüdische Kalender und der bürgerliche julianisch-gregorianische parallel. Seit dem 18. Juli 2018 ist der jüdische religiöse Kalender Staatskalender, alle Feiertage, auch die nicht religiösen, werden so gezählt. Da auf internationaler Ebene und im Tourismus der julianisch-gregorianische Kalender bestimmend ist, nutzen Israelis einfach beide Systeme parallel.


Verwendete Literatur:
Maße der Zeit, Publikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien. Wien, 1997.
Herausgeber: Jüdisches Museum der Stadt Wien
Redaktion: Dr. Felicitas Heimann-Jelinek, Mag. Hannes Sulzenbacher