„
dass ich ihnen schuldig bin, sie gegen den Missbrauch ihrer Geschichte und der ihrer Familie zu verteidigen“
Erinnerungen von Robert Rotifer, im Gespräch mit Barbara Staudinger
Robert Rotifer, geboren 1969 in Wien, ist Musiker, Journalist in Print und Radio und lebt seit 1997 in England. Seine Großmutter war die bekannte Wiener Widerstandskämpferin und Kommunistin Irma Schwager, die als Irma Wieselberg 1920 in eine Wiener jüdische Familie geboren wurde, und 2015 ebendort verstarb. Bereits früh durch die sozialistisch-zionistische Jugendbewegung Hashomer Hatzair politisiert, musste Irma Schwager 18jährig wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Österreich fliehen. Sie fand in Belgien Exil, flüchtete nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Mai 1940 nach Frankreich und wurde schließlich im Internierungslager Gurs festgehalten. Dort trat sie im selben Jahr der Parteigruppe der KPÖ bei. Nach einer gelungenen Flucht aus dem Lager schloss sie sich der Résistance an, war unter gefälschter Identität aktiv und konnte so überleben. Nach dem Krieg kehrte sie mit ihrem Ehemann, dem Spanienkämpfer Zalel Schwager (1908–1984), sowie ihrer im Krieg geborenen Tochter nach Wien zurück und war dort zeitlebens in der KPÖ sowie als Zeitzeugin aktiv.
(Barbara Staudinger – BS) Wann hast du das erste Mal von der Geschichte von deiner Großmutter gehört und von wem?
(Robert Rotifer – RR) Die Familien-, Widerstands- und Lager-Geschichten waren präsent, so lange ich zurückdenken kann, mit dem Beginn des Begreifens meines Ichseins. Wer bin ich und wo komme ich her? Warum, Mama, nennen dich alle Nicky, obwohl du Monika heißt? „Weil ich als kleines Kind eigentlich auf Französisch Monique geheißen hab, aber meinen Namen nicht aussprechen konnte. Angeblich hab ich zu mir selbst immer Nique‘ gesagt.“ Daraus ergab sich natürlich die Frage: Wieso französisch? „Weil ich in Frankreich geboren bin, in einer Stadt namens Lille. Aber unter einem falschen Namen.“ Wieso das? „Weil Oma und Opa versteckt gelebt haben, weil die Nazis hinter ihnen her waren
“ Und so mussten sie mir alles erklären, es war gar nicht zu umgehen. Auch die Frage, warum wir im Unterschied zu anderen Kindern so wenige Verwandte hatten. Warum einmal, als ich noch klein war, diese Verwandten aus diesem „Israel“ zu Besuch kamen. Wer war der Bub in meinem Alter, mit dem ich so gut gespielt hab, obwohl er kaum Deutsch konnte? Der mir so ähnlich sah, dass ich ihn auf Fotos mit mir selber verwechselte? „Das ist der Enkel von Irmas Bruder Oskar“, hieß es, „der ist gestorben, weil es in Israel für ihn viel zu heiß war. Die Irma- Oma hatte noch zwei andere Brüder, aber die sind schon lange nicht mehr am Leben, weil sie von den Nazis umgebracht wurden...“ Was immer man auf der mütterlichen Seite meiner Familie auch ansprach, alles führte irgendwann auf dieses Thema zurück. Und die Frage, wie es kam, dass Irma und Zalel überlebt hatten, stellte sich ebenfalls von selbst. Meine Eltern waren grundsätzlich ehrlich zu meiner Schwester und mir, sie erfanden keine Märchen. Sie ersparten uns wohl die schlimmsten Details, aber meine kindliche Fantasie füllte die freien Stellen aus. Von klein auf hatte ich immer dieselben Alpträume. Dass ich flüchten und mich verstecken muss. Panische Angst vor dem Bundesheer und jeder Art von Soldaten hatte ich. Präsenzdienst stellte ich mir wie eines jener „Lager“ vor, von denen man mir erzählt hatte. Mein Großvater Zalel war in meiner Kindheit noch am Leben. Bis er starb, als ich 14 war, hatten wir eine sehr enge Beziehung zueinander. Er war ein sehr weiser, würdevoller Mann, Pfeifenraucher, kleingewachsen mit starkem, gewelltem schwarzem Haar, immer in weißem Hemd und Hosen, die ihm fast bis zur Brust hinauf reichten. Zalel war 12 Jahre älter als meine Oma und hatte Inhaftierungen und Abschiebungen in der Ersten Republik und im Austrofaschismus, vor allem aber den Spanischen Bürgerkrieg hinter sich, als er Irma im französischen Lager Gurs kennenlernte. Wie es dort zuging, was für ein Glück es war, dass sie die menschenunwürdigen Zustände dort überlebten, erfuhr ich erst viel später aus anderen Quellen. Auch darüber erzählten sie uns nie Genaueres. Aber Zalel war trotzdem eine meiner wichtigsten Informationsquellen, weil er mich und meine Fragen immer ernst nahm, obwohl ich noch ein kleines Kind war. Irma war damals noch berufstätig, sie war als Nachfolgerin ihrer Freundin, der Architektin und Widerstandskämpferin Margarete Schütte-Lihotzky, Präsidentin des Bundes Demokratischer Frauen, einer pro forma unabhängigen, de facto der KPÖ zugehörigen Frauenbewegung, und als solche ständig unterwegs, immer auf Konferenzen oder in Versammlungen. Meine langen Gespräche mit ihr am Küchentisch kamen erst Jahrzehnte später.
30. Oktober 2024
Nachgefragt
Die Dritte Generation im Gespräch: Robert Rotifer
von Barbara Staudinger & Robert Rotifer
Begleitend und ergänzend zu unserer aktuellen Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ haben wir Interviews mit Angehörigen der Dritten (und manchmal auch der Vierten) Generation geführt und nach Ihrem ganz persönlichen Umgang mit der Geschichte ihrer Großeltern sowie nach der Wahrnehmung ihrer Generation gefragt. Die sehr unterschiedlichen Ergebnisse können Sie im Museumsblog lesen oder als Videos ansehen.
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Zalel, Irma, Ernst und Monika, um 1950
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Mit meiner frisch geborenen Mutter 1944 in Tourcoing bei Lille
(BS) Ich habe versucht, kurz das Leben von Irma Schwager zu skizzieren – gibt es Aspekte, die du noch hinzufügen willst oder die du für besonders wichtig hältst?
(RR) So vieles. Da ist sozusagen ein ungeschriebenes Buch, das ich hier unmöglich unterbringen kann. Aber zweierlei würde ich gerne hervorheben: Meine Großmutter hat ihre jüdische Herkunft nicht verleugnet, sie war in vieler Hinsicht eine klassische Wiener Assimilierte: Gesulzten Fisch zu Weihnachten, jede Menge jiddische Wörter im familieninternen Vokabular, aber dezidiert unreligiös. Sie und Zalel, der als Sohn eines Brigittenauer Maschgiach orthodox aufgewachsen war, haben sich aus marxistischer Überzeugung bewusst von der Religion abgewendet. Aber das änderte natürlich nichts daran, dass sie schon allein wegen ihrer Herkunft verfolgt waren. Mein Großvater war als kleines Kind mit seiner Familie vor den Pogromen in Galizien geflüchtet, Irma war in Wien geboren, aber ihre Eltern kamen aus dem Raum Lemberg. Trotzdem war es Irma immer sehr wichtig, dass ihre Geschichte ein Teil der Befreiung Österreichs war. Wie so vielen, die aus der zionistischen Bewegung in die Sozialdemokratie oder den Kommunismus übergewechselt waren, ging es ihr darum, dort wo sie lebte, eine bessere Gesellschaft für alle aufzubauen. Sie wollte sich diesen Anspruch und diesen Ort nicht wegnehmen lassen. Ich glaube insofern auch nicht, dass sie sich als Teil einer Diaspora betrachtete, sondern als Teil dieser Stadt, Teil dieses Landes. Denn das war das große Ziel, das Irma, Zalel und ihre österreichischen Freunde und Freundinnen im französischen Exil zusammenhielt, und zwar über politische und religiöse Grenzen hinweg: Österreich zu befreien. Auch wenn sie dann in ein Land zurückkamen, wo nichts mehr von ihrer Familie existierte. Ihre wenigen Geschwister, die überlebt hatten, waren allesamt nicht zurückgekehrt, nur Irma und Zalel waren da. Aber sie hatten als Ersatzfamilie Genossinnen und Genossen um sich, die sich auch so entschieden hatten. Die Wintersteins, Hermann „Onkel“ Wenkart, der mit meinem Großvater befreundete Ephraim Feuerlicht alias Franz Marek, all diese Namen aus dem jüdisch-kommunistischen Universum, mit denen ich von Kindheit an vertraut war.
Aber da ist noch eine andere wichtige Sache, die ich an Irmas Stelle sagen muss, weil sie es selbst nicht mehr kann: Das Allerwichtigste, worauf sie immer wieder zurückkam, war „der Friede“. Sie war Kommunistin, aber sicher keine Theoretikerin oder Ideologin. Man kann ihr berechtigt vorwerfen, parteitreu geblieben zu sein, als das für eine Menschenfreundin wie sie nur mehr unter äußerstem Selbstbetrug möglich war – mein Großvater dagegen zog sich als stille Form des Protests aus allen Parteiaktivitäten zurück – , aber der Kern von Irmas Botschaft, ihr allerhöchstes Ideal war unverrückbar der Frieden. Die Vermeidung von Blutvergießen als zivilisatorisches Gebot. Ich denke, man muss das respektieren als ihre Art, mit den selbst erlebten Gräueln des Kriegs fertig zu werden. Das war nicht Naivität, sondern unter furchtbaren Umständen erworbenes Prinzip, ein großer Unterschied. Insofern bin ich oft froh, dass Irma unsere heutige Zeit nicht erleben musste.
(BS) Irma Schwager war sehr lange als Zeitzeugin aktiv, ihr politisches Leben und ihr antifaschistischer Kampf sind vielen bekannt. Konntest du dich als Enkelsohn ihrem Leben anders annähern, etwa über persönliche Geschichten?
(RR) Das ist eine sehr gute Frage, denn es gab an ihrer Zeitzeuginnenschaft einen wichtigen Aspekt, den vermutlich viele andere Kinder der „dritten Generation“ wiedererkennen werden: Ja, meine Großeltern diskutierten laut und leidenschaftlich, ob untereinander, mit meinen sozialdemokratischen Eltern oder mit meinem Onkel Ernst. Keine Meinungsverschiedenheit war tabu. Aber obwohl meine Großeltern sozusagen auf der guten Seite und für die gute Sache gekämpft hatten, sprachen sie nicht gerne und schon gar nicht öffentlich über ihre persönlichen Erlebnisse in diesem Kampf. Ich weiß, dass zum Beispiel Ernst sich sehr ärgerte, als Irma in einer Fernsehdiskussionssendung auf die direkte Frage nach ihrem Erleben der Pogrome von 1938 nur mit abgedroschenen Allgemeinplätzen antwortete. Dabei war ihr eigener, altersschwacher Vater von den fanatisierten, arischen Nachbarn aus dem Rollstuhl auf die Straße gezerrt worden, um den Gehsteig zu waschen. Einer von Irmas Brüdern nahm sich daraufhin die Bürste, krempelte die Ärmel auf, sagte „Kein Problem, ich erledig das schon“ und begann an seines Vaters Stelle eigenhändig zu schrubben. Von Irma selbst gab es wiederum die Geschichte, dass sie den ihr vom Mob vor dem Haus gereichten Wasserkübel einfach umwarf und wegradelte. Diese Dinge erfuhr man von Zeit zu Zeit im Gespräch, aber in Irmas vielen Reden kamen sie nie vor. Ich verstehe heute, dass vieles daran Selbstschutz war. Irma und auch ihr Mann hielten die Vergangenheit auf Distanz. Es waren nicht nur die Täter und Täterinnen, die die Vergangenheit verdrängten, sondern auch die Überlebenden. Nicht nur aus ihrem vielzitierten Schuldgefühl heraus, sondern auch, weil es einfach zu weh tat, über die Ermordeten zu reden. Ich bin überzeugt, dass sie von diesen Geistern verfolgt wurden, also trugen sie sie nicht auch noch vor sich her. Ich weiß, dass mein Großvater meine Mutter und meinen Onkel zurechtwies, wenn sie Irma bohrende Fragen über ihre Familie stellten und sie dabei zu weinen anfing: „Seht’s ihr nicht, was ihr machts?“ Erst in ihren späten Jahren war die zeitliche Distanz groß genug, über Persönliches zu sprechen. Aber selbst in diesen Geschichten ging es nur um vergleichsweise harmlose Dinge. Wie zum Beispiel Zalel in Frankreich darunter gelitten hatte, dass Irma immer zu spät zu den Verabredungen erschien. Laut Protokoll hätte er gehen müssen, ohne auf sie zu warten, weil bei Unpünktlichkeit die Annahme war, dass der Kontakt „hochgegangen“ sein musste. Erst später verstand ich, wie viele Frauen, die so wie Irma in der Résistance die „Mädelarbeit“ des Ausspionierens und Demoralisierens deutscher Soldaten verrichteten, tatsächlich gefoltert und umgebracht wurden. Es war eine der gefährlichsten Tätigkeiten in der Résistance. Wann immer wir in Irmas letzten Jahren in Wien waren, haben meine Frau und ich bei ihr übernachtet und in langen Frühstücken über Dinge wie das Schmuggeln von Flugblättern in leeren Zahnpasta-Tuben gesprochen. Und wie knapp Irma dabei oft am Entdecktwerden vorbei schrammte.
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Ausweis als Engagierte der Franc Tireur Partisans (FTP), unter “Pseudonym" Suzanne Florin, wahrscheinlich nach der Befreiung im September 1944, obwohl sie da schon 24 gewesen wäre
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In Brüssel, 1938
(BS) Wie beeinflusste die Geschichte deiner Großeltern bzw. der Holocaust dein Leben?
(RR) Der Nachhall des Holocaust in meiner Herkunft bzw. der Nicht-Existenz großer Teile meiner Familie gab mir ein lebenslanges Gefühl des Misstrauens gegenüber der österreichischen Gesellschaft, das sich leider immer wieder bestätigt hat: Wenn ich als Kind in den späten Siebzigern beim Fußball-Verein spielte und der Trainer, als einer den Ball mit den Zehen statt dem Rist traf, sagte „Der haut an Jud drauf!“ „Das sagt man so“, erklärten mir meine Mitspieler. Oder wenn die Rapid-Fans damals gegen die Ränge der Austrianer im Stadion ganz offen im Chor „Judenschweine“ riefen. Wenn in den Neunzigern beim Zivildienst ein hauptberuflicher Sanitäter-Kollege nach Abliefern eines Patienten in der Psychiatrie auf der Baumgartner Höhe in konspirativem Tonfall zu mir sagte: „Die hätt’ ma alle vergast.“ Wenn mir eine nette Frau bei einem Botschaftsempfang zum Nationalfeiertag in London nach ein paar Fragen über meine Herkunft versicherte, dass es „im Krieg ja alle schwer gehabt“ hätten, auch unter den „normalen Österreichern“, selbst wenn man davon „ja nie etwas hört.“ Im Gegensatz zu meiner Oma, der überzeugten Österreicherin, die auf Wanderungen sogar das Jüdinnen vor dem Krieg verbotene Dirndl anlegte, hegte ich aus diesen Erfahrungen heraus immer eine tiefe Skepsis gegen jede Art von Patriotismus. Ich kann da einfach nicht mit, selbst wenn es „gut gemeint“ ist. Ich bin zwar Österreicher, aber lieber aus einer sicheren Distanz. Darüber hinaus hat mich überrascht, dass mich heute, an diesem Punkt meines Lebens der aus der Holocaust-Erfahrung hergeleitete Aspekt meiner Herkunft auf derart emotionale Weise heimsuchen würde. Darauf war ich nicht vorbereitet. Es ist die schamlose Instrumentalisierung des Holocaust für politische Zwecke, die mich tief im Innersten trifft. Insbesondere wenn Nachfahren der Täter und Täterinnen aus ihrem Erbe auch noch eine moralische Berufung konstruieren. Ich formuliere das jetzt absichtlich so offen, weil es meiner Erfahrung nach besser ist, wenn Leute sich angesprochen fühlen, als wenn man sie direkt anspricht. Das gibt ihnen die Möglichkeit, sich selbst Gedanken darüber zu machen, was sie eigentlich sagen und tun. Die Verwendung der Erinnerung an den Holocaust und das An-die-Wand-Malen eines nächsten als Rechtfertigung für rassistischen Hass oder kollektive Bestrafung einer Bevölkerung empfinde ich als geradezu körperlich unerträglich. Dabei geht es ja gar nicht um mich. Ich kenne vielmehr meine verstorbenen Großeltern gut genug, um zu wissen, was sie davon gehalten hätten. Und ich fühle, dass ich ihnen schuldig bin, sie gegen den Missbrauch ihrer Geschichte und der ihrer Familie zu verteidigen. Andere wird dasselbe Gefühl zu einem ganz anderen Schluss bringen, das ist mir bewusst. Noch andere werden sich damit begnügen, da und dort die richtige Floskel zu gebrauchen, sich ansonsten diplomatisch zu verhalten und nirgendwo anzustoßen, aber dieser Luxus steht mir nicht offen. Und mit dem Schützen der Holocaust-Erinnerung vor Missbrauch meine ich übrigens nicht das Ablehnen jedes Holocaust-Vergleichs. Denn Vergleichen muss man immer können, sonst nimmt man sich ja selbst den Maßstab, um die Wiederkehr von Gedanken und Handlungen zu erkennen, die zum Holocaust geführt haben.
(BS) Du hast dich musikalisch mit dem Leben deiner Großmutter auseinandergesetzt. Hat das deine Verbindung zu ihr verändert?
(RR) Irma hat meine musikalischen Neigungen immer respektiert, sich selbst aber nicht sonderlich für Musik interessiert. Ich hatte im Jahr 2000 einen Song über Zalel namens „Blue to Brown“ geschrieben, der Titel bezog sich auf den Wechsel von Blau- zu Braunhemden, wie er ihn selbst erlebt haben musste, und wie ich die moderne Version davon nun selbst wieder erlebte. Wir erinnern uns, 2000 war das Jahr der ersten Regierungsbeteiligung der FPÖ. „I'm glad you didn't see this day“ war die Schlüsselzeile aus dem Song, die mir heute auch in Bezug auf Irma immer wieder einfällt. Über Irma selbst habe ich zwei Songs geschrieben, aber erst nach ihrem Tod. Den ersten davon, als man mich gebeten hat, bei ihrer Totenfeier in der Verbrennungshalle zu spielen. Ich dachte, es gibt kein Lied, das wirklich auf sie zutrifft, also muss ich eines schreiben. Ich hatte nicht viel Zeit dafür, aber es ging mir erstaunlich leicht von der Hand. Ich gönnte mir die Abstraktionsebene, in meiner Alltagssprache Englisch zu schreiben, obwohl das Lied in Wien spielt. Es heißt „Irma la Douce“, und der Text ist eine Art Rundgang durch die Wohnung in der Schüttelstraße, die sie, Zalel und meine einjährige Mutter im Sommer 1945 bezogen. Das Wohnungsamt hatte sie ihnen zugeteilt. Mein Großvater war damals von der sowjetischen Besatzungsmacht mit der Rekrutierung einer neuen Exekutive aus möglichst nicht mit Nazi-Vergangenheit vorbelasteten Männern betraut worden, von denen es in Wien nicht viele gab. Dazu passend überließ man ihm und seiner Familie diese leerstehende Wohnung am Donaukanal, in der bis kurz davor eine Nazi-Offiziersfamilie gewohnt hatte. Das Viertel Böcklinstraße, Schüttelstraße galt damals als das „braune Dachl“ von Wien, weil Nazi-Funktionäre bürgerlichen jüdischen Familien diese Wohnungen in Praternähe geraubt hatten. Dieser harte Nazi-Kern hatte dort bis zum Schluss ausgeharrt und war von der Roten Armee über den Donaukanal hinweg aus dem Dritten Bezirk beschossen worden. Deshalb hatte die Außenmauer der Wohnung ein Loch von einem Granatentreffer, das erst wieder gestopft werden musste, um sie bewohnbar zu machen. In einer der Wohnzimmertüren konnte man noch siebzig Jahre später ein Einschussloch von einem Querschläger sehen. Die Beschreibung davon führt mich zu den Schlusszeilen des Refrains: „Irma la Douce, tell me the truth. What made you come back home? 'We came because we won.'“ Das war ein direktes Zitat ihrer Antwort auf meine Frage, die ich ihr bei ihrem 90. Geburtstag gestellt hatte: „Irma, ich bin dankbar, weil ich sonst heute nicht hier wäre, aber ich habe das nie verstanden: Warum seid ihr nach Wien zurückgekommen?“ Ihre Antwort darauf kam blitzartig, ohne jedes Zögern: „Na, weil wir gewonnen haben.“ Das erklärt ihre Einstellung eigentlich besser und konziser als alles, was ich vorhin in eigene Worte zu fassen versucht habe.
Mein zweiter Song über Irma war „Not Your Door“, geschrieben ein paar Tage nach der Totenfeier. Ich war dabei, mich auf den Weg zurück nach England zu machen und wollte noch einmal in der Wohnung vorbeischauen, noch einmal in Irmas Briefen stöbern, noch einmal Zalels seit Jahrzehnten unveränderten Schreibtisch sehen, mit den Fingern die Möbel entlangfahren. Und erst, als ich dort war, wurde mir bewusst, dass ich keine Schlüssel bei mir hatte. Dass Irma mir nicht öffnen konnte, weil sie nicht mehr da war. Dass also auch der Balkon da oben nicht mehr der ihre war, und auch die Haustür nicht. Das hat, um auf die Frage zurückzukommen, meine Verbindung zu ihr tatsächlich nicht beendet, sondern verändert. Seit ihrem Tod wohnt sie nicht mehr in der Schüttelstraße, sondern in meinem Kopf. Sie ist jetzt immer bei mir.
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Mit meiner Mutter 1945 in der gerade bezogenen Wohnung an der Schüttelstraße
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Mit meiner einjährigen Mutter, Brüssel 1945
(BS) Gibt es eine Erinnerung oder auch ein Objekt, das du ganz besonders mit Irma Schwager in Verbindung bringen würdest? Warum hast du diese Erinnerung, dieses Objekt ausgesucht?
Irma hatte eine besonders energische Art, Geschirr abzuwaschen, bei der oft einiges zu Bruch ging, unter anderem die diversen Bestandteile ihres Frühstücks- und Jausen-Service. Acapulco von Villeroy & Boch. Ich habe dieses Service immer mit ihr assoziiert, weil es sowohl zu ihrer Solidarität mit lateinamerikanischen Widerstandsbewegungen als auch zu ihrem Faible für Friedenstauben aller Arten passte. Aber auch, weil darauf ihr ebenso energisch hergestellter, verlässlich großartiger Apfelstrudel serviert wurde. Nach Irmas Tod haben meine Frau und ich uns aus ihrem Nachlass die wenigen überlebenden Tassen, Teller und Eierbecher ausgesucht. Wir verwenden sie fast jeden Morgen.
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