28. Oktober 2024
Aktuelles

In memoriam - Lore Segal (1928-2024)

von Caitlin Gura & Daniela Pscheiden
© Lore Segal bei der Wiener Jause im Österreichischen Kulturforum New York im Oktober 2019; Foto: JMW

„Die Kinder sollten nicht vor neun Uhr abends zusammenkommen, aber mein Koffer stand den ganzen Tag bereit an der Tür unserer Wohnung. Es war Dezember 1938. Ich war zehn Jahre alt. Ich nahm den ersten Kindertransport, den das Wiener Jüdische Komitee organisiert hatte, um jüdische Kinder aus Österreich zu retten.“ Diese Worte sind die Einleitung zu Lore Segals Artikel „Other People’s Houses: The Children’s Transport“, der 1961 im New Yorker veröffentlicht wurde. Ihr Artikel war einer der ersten Augenzeugenberichte, die von einem Kind über die Kindertransporte geschrieben wurden.
 
Die New York Public Library erwarb Lore Segals persönliches Archiv, das nicht nur verschiedene Dokumente und Korrespondenzen zu ihren literarischen Werken, dem Leben ihrer Familie in Österreich und ihrer Flucht im Zweiten Weltkrieg enthält, sondern auch Briefe von anderen Kindern der Kindertransporte, die begeistert auf ihren New Yorker Artikel reagierten.
 
Lore Segal wurde am 8. März 1928 als Tochter von Ignatz und Franzika Groszmann in Wien geboren. Sie wuchs im achten Bezirk auf und lebte in der Josefstädterstraße 81-83. In den Monaten nach dem „Anschluss“, am 12. März 1938, taten ihre Eltern alles in ihrer Macht Stehende, um ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Sie schafften es, ihr einen Platz auf einem der ersten Kindertransporte zu sichern, einer Rettungsaktion, um so viele jüdische und andere verfolgte Kinder wie möglich aus dem „Deutschen Reich“ in andere Länder zu bringen. Von Dezember 1938 bis September 1939 wurden Transporte in die Niederlande, nach Frankreich, Schweden, in die Schweiz, nach Belgien, in die USA und nach Großbritannien organisiert. Rund 12.000 Kinder wurden gerettet, davon über 3.200 aus Österreich. Lore Segal kam in Großbritannien an und lebte zunächst bei einer jüdisch-orthodoxen Pflegefamilie. Nach ihrer Ankunft nahm die zehnjährige Lore Kontakt zu Familienmitgliedern außerhalb Österreichs auf, um Hilfe für die Rettung ihrer Eltern zu bekommen. Ihre Bemühungen waren erfolgreich und beide Elternteile schafften es, im März 1939 nach Großbritannien zu fliehen. Lore Segal war eines der wenigen Kinder, die mit ihren Eltern wiedervereint wurden.
 
Nach ihrem Abschluss in englischer Literatur im Vereinigten Königreich im Jahr 1948 und einem kurzen Aufenthalt in der Dominikanischen Republik, wo sie Englisch unterrichtete, erhielten Lore Segal und ihre Mutter Franzi (ihr Vater war in England verstorben) eidesstattliche Erklärungen und Visa für die Einreise in die Vereinigten Staaten. 1951 ließen sie sich schließlich in New York City nieder. Lore Segal verfolgte eine Karriere im kreativen Schreiben und heiratete 1960 den Redakteur David Segal. Sie lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten als Professorin für Englisch, insbesondere an der Columbia University und Princeton. Sie verfasste viele Kinderbücher sowie andere literarische Werke für Erwachsene und schrieb bis ins hohe Alter weiter. Ihr letztes Buch „Ladies’ Lunch“, eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde 2023 veröffentlicht. Am 7. Oktober 2024 starb sie im Alter von 96 Jahren in New York City. Sie hinterlässt ihre Kinder Beatrice und Jacob sowie ihre drei Enkelkinder.

© Poster der Sonderausstellung „Ohne Heimat: Kindertransporte aus Wien“ im Jüdischen Museum Wien
Lore Segals Geschichte wurde in der Sonderausstellung „Ohne Heimat. Kindertransporte aus Wien“ (10. November 2021 – 15. Mai 2022) im Museum Judenplatz gezeigt. Ihr Passfoto aus ihren Kindertransport-Dokumenten war das Motiv des Ausstellungsposters. Lore Segal stellte uns für diese Ausstellung eine Erstausgabe ihres New Yorker Artikels „Other People’s Houses“ sowie einen Rotkreuz-Brief ihrer Familie zur Verfügung. Kuratorin Sabine Apostolo traf Lore Segal persönlich im Österreichischen Kulturforum New York im Oktober 2019, bei einer speziellen „Wiener Jause“ mit Wiener „Kindern“, wie sich die Kinder der Kindertransporte nannten.

© Lore Segal bei der Wiener Jause im Österreichischen Kulturforum New York im Oktober 2019; Foto: JMW
Im Bezirksmuseum Josefstadt ist die Sonderausstellung „Ich wollte Wien liebhaben, habe mich aber nicht getraut‘ Das Leben der Schriftstellerin Lore Segal“ zu sehen, die einen detaillierten Einblick in Lore Segals Lebensgeschichte bietet und einzigartige Originalobjekte aus dem Nachlass der österreichisch-amerikanischen Schriftstellerin zeigt. Die Ausstellung läuft bis zum 26. Januar 2025.

Lore Segal wird sehr vermisst werden.

1Lore Segal, Other People’s Houses. The Children’s Transports, in: The New Yorker (1961), 41.