11. Mai 2023
Aktuelles

(Über)lebensrezepte. Edith Friedlander (1922-2023)

von Barbara Staudinger
© Austrian Heritage Archive / Leo Baeck Institute
Am Wochenende zum 1. Mai 2023 ist Edith Friedlander verstorben. Geboren 1922 als Edith Käufler in Wien, floh sie 1938 mit ihren Eltern nach Prag. 1942 wurde sie mit ihrer Mutter in das KZ Theresienstadt deportiert und von dort 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verbracht. Edith Friedlander überlebte im Außenlager Oederan bei Chemnitz. Nach dem Krieg emigrierte sie 1947 in die USA und lebte bis zu ihrem Tod in New York City. Diesen bisher unveröffentlichten Text habe ich anlässlich meines Besuchs bei ihr in New York 2018 geschrieben.

Am 14. Februar 2018 besuchte ich sie in ihrer Altersresidenz in Queens, New York – Edith Friedlander, 96 Jahre alt, eine Auschwitz-Überlebende aus Wien, eine alte, reizende Dame, die mich gleich nach meinem Eintreten dazu nötigte, doch bitte etwas zu essen, sie könnte es nicht sehen, wenn ein Besuch hungerte. Also saß ich zunächst bei ihr in der Küche, aß Schwarzbrot – echtes Brot, merkte sie an, nicht das, was die Amerikaner Brot nennen; das war ihr wichtig – und unterhielt mich mit ihr. Wir sprachen Englisch. Ich war nicht ohne Grund zu ihr gekommen, ich hatte einen Auftrag. Wir bereiteten eine Ausstellung vor und ich hatte mit ihr vereinbart, dass ich an diesem Tag ein Objekt von ihr abholen würde, das sie noch aus Wien hatte – auf verschlungenen Wegen war es nach Amerika und nach New York und schließlich wieder in ihren Besitz gekommen: ein Schuber mit Karteikarten mit Kochrezepten aus Wien war das. Rezepte, die in ihrer Familie gekocht wurden, von Köchinnen für mehrere Generationen ihrer Familie. Wiener Rezepte voller Erinnerungen – ein Stück Heimat, dass sie retten konnte, auch wenn niemand aus ihrer Familie die Schoa überlebt hatte – außer sie. Wir wollten die Rezepte in der Ausstellung zeigen, darauf verweisen, was es bedeutete, die Heimat zu verlieren, wie es Jean Améry in seinem Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ beschreibt.

Bereits im Vorfeld hatte es meinerseits Verwirrung um dieses Objekt gegeben. Ich hatte mit Edith E-Mails getauscht –ja, die alte Dame schrieb E-Mails. Wir hatten ausgemacht, wann ich kommen würde, ich hatte über die Ausstellung geschrieben - ein wenig Smalltalk vor meinem Besuch, wir kannten uns ja noch nicht. Wenige Tage bevor ich in die USA flog, erreichte mich noch ein letztes Mail von ihr. Es täte ihr leid, dass sie den Leihvertrag nie ausgefüllt und zurückgeschickt hätte, aber sie, müsste ich wissen, hätte niemanden in den USA, keine Verwandten, und ich sollte die Rezepte doch einfach behalten, sie bräuchte sie nicht mehr. Ich begann nachzudenken, was sie damit gemeint haben könnte, wenn sie überhaupt etwas anderes gemeint hatte, als die bloße Tatsache, dass sie ihr Zeug loswerden wollte (aber das ist es nie, das wusste ich schon). Ich schrieb nach ein paar Tagen zurück, dass wir darüber reden würden, wenn ich sie besuchen kommen würde.

Und nun saß ich da, in der Küche von Edith Friedlander mit Kaffee (echtem! Wieder machte sie eine Anmerkung, wieder war es wichtig) und Broten und sprach mit ihr. Sie war eine elegante Dame, war sorgfältig geschminkt mit einem passenden Lippenstift und ein wenig Rouge, gut gekleidet, die Haare schön gelegt. So saß sie nun in ihrem Appartement oben in einem Hochhaus mit einem fantastischen Blick auf die Skyline von Manhattan, das so eingerichtet war, dass es sich auch in Wien hätte befinden können. Tat es aber nicht. Und ich saß da und sprach mit ihr auf Englisch, mit einer Wiener Dame aus gutbürgerlichem Hause mit starken Wiener Akzent im Englischen (sie ärgerte sich darüber) und das Gespräch floss dahin, streifte zuerst die Politik, Trump und das Erstarken der Rechten in Europa und unsere Sorgen darüber, schweifte immer wieder ab, etwa zu ihrer Bewunderung für die Gerechten, die ihr Leben im „Dritten Reich“ riskiert hatten, um Menschen zu retten – Menschen wie sie, Juden. Die Gerechten seien die wahren Helden, nicht sie, die Überlebenden, meinte Edith. Das wäre doch bei den meisten nur Glück gewesen, Zufall, sie hätten nichts dafür getan.

Ich war nicht ihr erster Besuch aus Wien. Sie hatte bereits jahrelang Kontakt mit dem Leo Baeck Institute in New York, sie hatte Interviews gegeben, für die Austrian Heritage Collection zum Beispiel, sie war auch nach Österreich gereist, für die „Letters to the Stars“ etwa. Sie war also bereits eine erfahrene Zeitzeugin, als ich sie besuchte, und hatte ihre Geschichte schon mehrmals erzählt. Im Vorfeld hatte ich die Interviews gelesen, ich kannte also auch schon ihre Geschichte, und ich hatte mich informiert, wie sie denn so sei. Ein Freund hatte sie letztes Jahr interviewt, wir trafen uns vorher in Wien und er erzählte mir von Edith. Dass sie so eine pragmatische und reflektierte Frau sei, sagte er, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hätte, eine gute Interviewpartnerin, die man alles fragen könne, weniger emotional als andere, faktenbasiert und überlegt. Dies läge, so meinte er, auch daran, dass sie bis ins hohe Alter in einem Verlag für Psychoanalyse gearbeitet hatte. Diesen reflektierten Eindruck machte sie jetzt auch auf mich, auch wenn ich dem Freund, ich gestehe es, nicht geglaubt hatte, schließlich habe ich selbst genug Überlebende besucht. Und hätte ich sie nicht später darauf angesprochen, vielleicht hätte ich es selbst geglaubt, dass sie wohl eine der wenigen sei, die der Holocaust nicht zerstört hatte.
 

Wir reden nicht über Auschwitz

Eben jener Freund hatte mich bereits darauf hingewiesen, dass Edith nicht über Auschwitz sprechen würde. Wenn man sie darauf ansprach, legte sie einem einen Brief vor die Nase, den sie direkt nach dem Krieg, nach ihrer Befreiung geschrieben hatte. Da stünde alles drin, sagte sie, mehr habe sie nicht hinzuzufügen, zumal ihre Erinnerung auch nicht besser werde. Aus diesem Grund fragte ich sie gar nicht danach. Der Brief war längst abfotografiert, transkribiert und würde mir zur Verfügung stehen, wenn ich das wollte. Mehr wollte sie nicht erzählen und das, fand ich, musste man akzeptieren. Also keine Fragen zu Auschwitz, wo ihre Mutter ermordet wurde. 1944 waren sie von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert worden, einer der letzten Transporte, was nicht bedeutete, dass ein Überleben wahrscheinlicher wurde. Edith war damals 22 Jahre alt gewesen und wurde bei der Selektion zur „richtigen“ Seite gewiesen, die Seite, die bedeutete, dass man nicht sofort vergast wurde, sondern vorher noch ein wenig weiter leben durfte. Ihre Mutter nicht, sie kam auf die andere Seite. Ihrem Vater war das erspart geblieben. Er war ein sehr alter Vater gewesen, 1940 war er gestorben, vor der Deportation, vor Theresienstadt und Auschwitz. Gut so, meinte Edith.

Hin und wieder streifte unser Gespräch, auch wenn es nicht um Auschwitz ging und ich sie nicht darüber fragte, dann doch Auschwitz, den Verlust, die Schoa, das nachher. Und ich fragte sie, wie es ihr möglich wäre, so darüber zu sprechen, etwas distanziert, sehr reflektiert, manchmal fast wissenschaftlich. Und sie antwortete mir, was bliebe ihr denn anderes übrig, sie hätte sich hart machen müssen, Emotionen abstellen, sonst hätte sie nicht überlebt. Und dann sah sie mich an und ich wusste, dass ich jetzt nicht nachfragen würde (und sie wusste auch, dass ich es nicht tun würde), aber wir sahen uns in die Augen und wir beide wussten, dass es da noch eine andere Edith gibt, eine versteckte Edith. Und ich weiß, dass diese versteckte Edith auch etwas mit ihrem E-Mail und ihrem Vorschlag, ich solle die Rezepte doch einfach behalten, zu tun hatte. Aber wir sprachen nicht über Auschwitz.


In der Halbgasse im 7. Bezirk

Vielmehr sprachen wir über ihre Kindheit. Ich wollte herausfinden, welche Rezepte sie selbst gekostet hatte, mit welchen sie Erinnerungen verband und daher plauderten wir über ihre Kindheit und Jugend in Wien, vor 1938, als noch alles gut war, zumindest für sie, meinte sie, sie wären ja keine religiösen Juden gewesen. Edith wusste, wie sich der 7. Bezirk in den letzten Jahren entwickelt hat. Sie hat in einem guten Bezirk gelebt, sagte sie - und ich stimmte ihr zu -, in der Halbgasse, nicht in einem „jüdischen Bezirk“ wie der Leopoldstadt. Sie war ein behütetes Einzelkind, ihr Vater, ein Diplom-Ingenieur hatte eine gute Stellung gehabt, war gebildet. Sie sollte auch eine gute Ausbildung bekommen und war ins Gymnasium gegangen, in das Mädchengymnasium in der Albertgasse im 8. Bezirk, sehr bürgerlich. Ungewöhnlich waren höchstens ihre Haustiere. Edith hatte fünf Frösche, erzählt sie mir. Wie sie zu denen kam, weiß sie nicht mehr, aber die hat sie gehalten und sie mussten gefüttert werden. Daher hatte ihr Vater immer ein leeres Marmeladenglas bei sich. Zum Fliegenfangen. Wenn er, in den 1870ern geboren und daher bereits ein gesetzterer Mann, der spät Vater geworden war, ins Kaffeehaus ging, wies ihm der Kellner immer den Tisch mit den fettesten Fliegen zu. Da saß er dann, trank Kaffee, sicher las er auch Zeitung, und fing dabei Fliegen für die Frösche seiner Tochter. Edith hatte sie geliebt – und ein gewisser Froschfaible war ihr geblieben. In ihrer Wohnung wimmelte es von Fröschen, aus Porzellan, Holz, Glas, Plastik. Die Nippes verteilten sich über die Wohnung und fügten sich so organisch ein, dass man sie zuerst gar nicht wahrnimmt. Umso mehr, als sie einen dann darauf hinwies.

Edith erzählte von ihrer Jugend in Wien und dass es manchmal als Einzelkind und Jugendliche auch sehr langweilig war. Deswegen hätten ihre Eltern, wenn sie ihre Tochter zum Wandern auf die sogenannten Wiener Hausberge verdonnerten, auch öfters ein anderes Kind mitgenommen, eine Freundin, damit sie sich nicht so langweilte. Als sie über die Wanderungen sprach, etwa auf den Cobenzl, kramte Edith ein Fotoalbum heraus. Da sieht man die Familie, der Vater in Janker und Lederhosen, Edith und ihre Mutter im Dirndl. In Gesellschaft beim Heurigen mit Blick über Wien. Fotos, wie es sie in so vielen Familien, jüdischen wie nichtjüdischen gab und gibt. Edith und ich sahen uns die Fotos an, sie erzählte, wer da zu sehen sei, aus welchem Anlass das Foto entstanden war. Ein paar Fotos waren herausgeschnitten, sie wüsste nicht mehr, warum sie das getan hätte, sagte sie. Auch nicht, wer auf den herausgeschnittenen Fotos war. Und wie sie so über die Fotos und den Cobenzl erzählte, sprach sie plötzlich Deutsch, wechselte in die Sprache ihrer Kindheit. Es war ein schönes Deutsch, ein weicher Wiener Akzent. Sie erzählte und merkte zuerst nicht, dass sie die Sprache gewechselt hatte, aber schließlich fiel es ihr doch auf. Unvermittelt sah sie mich an: „Warum reden wir beide nicht Deutsch?“, wollte sie wissen. Ich antwortete, dass ich ihr keine Sprache aufdrängen hatte wollen, dass ich nicht wissen hätte können, ob sie noch Deutsch sprechen wollte. Ach nein, meinte sie, schließlich war der Verlag, in dem sie gearbeitet hatte, ja zweisprachig gewesen. Aber jetzt hätte sie so lange nicht mehr Deutsch geredet, dass es ihr nicht in den Sinn gekommen war. Weil wir jetzt schon die Sprache gewechselt hatten, blieben wir auch dabei.
Und da wir gerade beim Cobenzl waren, kam sie nun auch auf die Rezepte zu sprechen, weswegen ich eigentlich auch gekommen war. Ihr Vater hatte eine Lieblingsbäckerei gehabt, Cobenzltascherl haben sie geheißen, die habe er wöchentlich gegessen. Und wenn er nach Hause gekommen ist und es roch nach Cobenzltascherln hat er eine große Freude gehabt. Eine „Extra-Portion Mama“ nannte er diesen Geruch.


Die Köchin Resi

Wir blätterten gemeinsam die Rezepte durch und ich fragte sie, was sie gerne gegessen hat, damals.  Edith erwähnte einen Orangenkuchen, der war auch später ihr liebstes Rezept. Und sie erzählte mir, wie es war mit ihrer Köchin Resi, damals. Immer, wenn Resi Kuchen gebacken hatte, hatte sie die Schüsseln mit den Teigresten aufgehoben, damit Edith sie ausschlecken konnte. Und wie alle Kinder fragte sich Edith, warum man nicht einfach den Teig essen würde, der wäre ja noch viel besser als der Kuchen. Die Köchin Resi ist auf zahlreichen Rezeptkarten vermerkt, oben in der Ecke.

Die Rezepte sind sorgfältig auf Karteikarten mit der Maschine getippt, sodass man nicht mehr erkennen kann, aus welcher Zeit die Rezepte stammen. Aber sie sind wohl zum Teil noch von ihrer Großmutter bzw. von deren Köchin Berta. Auch sie hat Edith gekannt und gerne gemocht. Nach dem Krieg besuchte sie Berta in Wien. Berta war keine Jüdin, sie hatte den Krieg überlebt, im Gegensatz zu Ediths Familie. Als sie Berta besuchte, war Edith schockiert von der Armut dieser Frau. Die kleine Substandardwohnung mit Wasser in der Bassena am Gang, die Dunkelheit und die Enge, all das war für Edith schlimm und Berta tat ihr sehr leid. Sie war beschämt von ihrer Armut. Noch mehr betroffen wurde sie allerdings, als Berta sagte, sie hätte etwas für sie, in eine dunkle Kammer nach hinten verschwand und mit den Brillantohrringen ihrer, Ediths, Großmutter wiederauftauchte. Sie hatte sie aufbewahrt. Edith ist es heute noch unbegreiflich, warum Berta sie nicht verkauft hatte, wo sie doch an Hunger litt. „Das ist zu viel, mehr als man verlangen kann“, sagte Edith zu mir. „Redlichkeit ist wahres Heldentum“, merkte sie später an. Auch eine der Geschichten, die Edith nicht das erste Mal erzählte.

Wir blätterten weiter in den Rezepten. Manche Rezepte sind von einer Tante, die Edith nicht kennt, nie von ihr gehört hat und die nur hier verewigt ist. Sie hat nie weiter danach gefragt, wer diese Tante sein könnte. Ich tat es auch nicht. Die Süßspeisen und die Suppen, die mochte Edith gerne und die mag sie heute noch. Ja, nach dem Krieg hat sie viele dieser Rezepte gekocht, auch wenn es schwierig und manchmal auch unmöglich war, an die richtigen Zutaten zu kommen. Es gibt keinen Topfen in Amerika, oder Semmelbrösel und Grieß, den richtigen, für die Grießnockerlsuppe, war auch nur schwer zu besorgen. Allerdings war ihr, wie vielen Emigranten oder Überlebenden kein Weg zu weit, um dann die heimatliche Küche schmecken zu können. Ihrem Mann sei das genauso wichtig gewesen, erzählte mir Edith. Er bzw. die Familie Friedländer stammte ursprünglich aus Olmütz, ihre Familie aus Brünn. Ihr Großvater habe dort eine Fabrik gehabt, die Familie Käufler, so hieß Edith mit Mädchennamen, hatte dort Besitz. Und wenn also Verwandte ihres Mannes kamen, dann kochte sie tschechisch. Oder eben die Wiener Rezepte, es gäbe ohnehin nur wenig Unterschiede zur böhmischen oder mährischen Küche.

2018, mit 96, kochte sie gar nicht mehr, es war ihr zu anstrengend. Und ohnehin brauchte sie nicht mehr so viel. So aß sie, während ich bei ihr war, eine Art Paprikahuhn. Tagelang aß sie schon an der Portion, die sie sich bestellt hatte. Es war einfach zu viel und auch als ich sie besuchte, wurde sie damit nicht fertig. Sie würde den Rest abends in einer Suppe essen, versprach sie mir. Edith warf nichts weg, das konnte sie nicht, und Essen wegwerfen schon gar nicht. Da aß sie lieber tagelang am selben Gericht, auch wenn sie das nicht freute. Dass sie selbst nur wenig essen konnte, kompensierte sie damit, dass andere essen mussten. „Hungern ist schlimm“, meinte sie dazu lakonisch. Wir wussten beide, dass damit viel mehr gemeint ist.


Prag 1938 - und danach

Nach dem „Anschluss“ wurde den Käuflers bewusst, dass sie nicht in Wien bleiben konnten. So beendete Edith nicht die Schule und weil die Familie die tschechische Staatsbürgerschaft hatte – wie so viele Juden in Wien waren sie offiziell nicht Österreicher -, flohen sie nach Prag. Allerdings nicht Hals über Kopf. Zuvor gaben sie den Öttingers, ihren nächsten Freunden, die ein Visum in die USA hatten, einige Sachen mit, die diese mit dem Lift, wie man die Umzugscontainer, die verschifft wurden, nannte, in die USA mitnahmen. Andere persönliche Sachen wurden den Hausangestellten übergeben, um sie aufzubewahren. Ob der Köchin Resi dabei auch eine Aufgabe zukam, weiß ich nicht.
Die Käuflers aber gingen nach Prag und waren dort kurze Zeit sicher. Aber nicht lange. Dennoch hatte Edith dort Freundinnen und auch eine beste Freundin, eine Nichtjüdin. Als sie 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, gemeinsam mit ihrer Mutter - ihr Vater war da bereits gestorben - wurden sie auseinandergerissen. Aber die Freundschaft hielt. Edith erzählte mir, dass sie, nach der Befreiung zuerst nach Prag fuhr, um ihre Freundin wiederzutreffen. Sie hatte ja sonst niemanden mehr. Und dann lebte sie eine Zeit lang in Prag, zuerst mit ihr, der Freundin und deren Mutter zusammen, dann nahm sich Edith eine eigene Wohnung und die Freundin zog zu ihr. Edith arbeitete damals für die Botschaft von Paraguay, das erzählt sie gerne. Weil Paraguay nach dem Krieg nur Visa für katholische Bauern vergab, und Edith, die diese Visa-Anträge zu prüfen hatte, alle zu katholischen Bauern machte. Auch, wie sie kichern erzählte, orthodoxe Juden, die im Kaftan, Hüten und mit Pejes vor ihr standen. Ihre persönliche Rache sei das gewesen. Und mit der Freundin war sie auch noch verbunden, als sie schon in Amerika lebte. Sie sei vor den Kommunisten geflohen und, das erzählt Edith stolz, habe dann in Amerika Karriere gemacht. Weil sie nämlich eine so kluge Frau war. So reden beste Freundinnen voneinander, dachte ich mir.
Als die beiden aber noch in Prag wohnten, nach dem Krieg, so erzählte Edith, habe die Freundin sich arg um sie gesorgt. Wegen ihres starken deutschen Akzents im Tschechischen. Das ist nämlich nach dem Krieg nicht besonders gut angekommen. Es sei gefährlich in der Öffentlichkeit so zu reden. Aber Edith konnte nicht anders, sie sprach auch noch nach Jahrzehnten Englisch mit einem starken Wiener Akzent (und schämte sich ein wenig dafür).


Freunde

 Überhaupt waren Freunde für Edith sehr wichtig. Bis zuletzt waren sie ein Familienersatz. Ihr Mann, den sie nach dem Krieg in Amerika heiratete, war schon lange tot. Auch ihn hatte sie über Freunde kennengelernt. Über die Öttingers, die besten Freunde ihrer Eltern, bei denen er zu Besuch war. Edith war mit 25 in die USA gekommen und war sehr hübsch ihr zukünftiger Mann war auch ein Migrant. „Das passt“, hatte sie sich gedacht. Er war ein guter Mann gewesen, der ihr den Freiraum, den sie brauchte, auch ließ. Und sie haben viele gemeinsame Reisen unternommen, die besonders schön gewesen waren, weil sie da nur zu zweit waren und ihr Mann nicht eifersüchtig auf Ediths Freunde sein musste. Und schon war das Gespräch wieder bei diesen: Öttinger - im Gespräch gebrauchte sie nur den Nachnamen - war allerdings ein deutscher Jude gewesen und sehr wohlhabend. Eine gute Position hätte er gehabt bei der IG Farben, erzählte Edith. Sie erwähnte nicht, dass das doch eigentlich nachträglich betrachtet ein Hohn ist, bei der Firma gearbeitet zu haben, die dann in Auschwitz die Buna-Werke betrieb und dafür das Lager Auschwitz-Monowitz finanzierte. 1947, als sie nach Amerika kam, nachdem sie festgestellt hatte, dass ihre Familie nach dem Krieg nicht mehr existierte, war sie auch zuerst zu den Öttingers gegangen, die für sie fast Familie waren. In Ediths Fotoalben sind viele Bilder, auf denen die Öttingers mit den Käuflers zu sehen sind, viele gemeinsame Erinnerungen. Die Bilder sah sie gerne an. Besonders die von Osttirol, wo sie jedes Jahr mit ihrer Familie auf Urlaub war. Wir waren irgendwie auf den Begriff „Heimat“ zu sprechen gekommen und sie meinte, dass für sie Heimat eine bloße Erinnerung sei, am ehesten mit der Natur verbunden, mit Osttirol. Die Berge und die Seen, die Urlaube mit ihrer Familie, das wäre am ehesten das, was für sie Heimat bedeuten würde. Aber jetzt, heute, gäbe es das nicht mehr für sie, eine Heimat. Edith Friedlander lebte über 70 Jahren in New York, ohne Heimat.

Als sie nun zu den Öttingers kam, damals, nach dem Krieg, an ihrem ersten Besuch, da platzte sie in die Hochzeitsvorbereitungen irgendwelcher Verwandter. Eine heiße Diskussion um die Farbnuance der rosa Servietten war gerade im Gange gewesen. Und Edith, die gerade aus dem zerstörten Europa kam, die ihre Familie verloren und Auschwitz überlebt hatte, konnte es nicht fassen, dass es Menschen gab, deren Probleme sich auf den Farbton der rosa Servietten reduzierten. Sie verließ das Haus und brauchte lange, um darüber hinwegzukommen, lange, um zu akzeptieren, dass dies, wäre ihr Leben anders verlaufen, vielleicht auch ihre Probleme gewesen wären. Waren sie aber nicht. Wenn sie einmal ihre Memoiren schreiben würde, würde sie sie „Pink Napkins“ betiteln, sagte Edith.
Bis zuletzt war Edith mit den Öttingers befreundet, mit mehreren Generationen gleich, Edith zeigte mir Kinderfotos des jüngsten Sprösslings, irgendwie selbst stolz. Warum sie selbst keine Kinder gehabt habe, fragte ich sie. Und dann schaute mich die andere Edith an und hatte Tränen in den Augen. Sie habe ja ein Kind gehabt, aber es sei gestorben. Sofort war sie wieder die abgeklärte Frau, die ich schon kannte, und meinte, dass ihre Freunde ihr die Familie ersetzen würden. Freilich, im Alter sei dies schwer, zumal immer mehr Freunde sterben würden. Aber noch hätte sie genug und zudem sei sie sich ja gar nicht sicher gewesen, ob das mit dem Kind für sie überhaupt so eine gute Idee gewesen wäre. Nein, ich fragte nicht noch einmal nach.

Die Box mit den Rezepten nahm ich sorgfältig verpackt mit. Zugleich gab ich ihr das Versprechen, dafür einen guten Ort zu finden, etwas damit zu machen. Ich glaube, es war ihr gleichgültig, ob ich es ernst meinte oder nicht, aber sie war ein wenig gerührt über meine Wertschätzung. Ich war mittags gekommen und verabschiedete mich nach fast vier Stunden, nachdem Freunde gekommen waren, die versprochen hatten, ihren Computer zu richten, der irgendwie nicht mehr richtig funktionierte. Wir versprachen, voneinander zu hören, freilich würde ich ihr den Ausstellungskatalog schicken, sobald dieser gedruckt wäre und auch darüber hinaus versprachen wir, in Kontakt zu bleiben. Ich verließ das Apartment und die Altersresidenz in Queens und brach nach Manhattan auf.