16. April 2024
Aktuelles

Lost in Nahost*? – Das neue Vermittlungsprogramm des Jüdischen Museums zum aktuellen Konflikt in Israel/Gaza

von Hannah Landsmann
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Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, die folgende Bombardierung Gazas und die daraus resultierende humanitäre Katastrophe, haben längst die Klassenzimmer erreicht. Von der Geschichte des Nahostkonflikts wissen die wenigsten, aber alle haben eine Meinung dazu. Für diejenigen, die wirklich etwas wissen wollen, ist es schwierig geworden, sich zwischen Propaganda und Information zurecht zu finden. Das JMW bietet daher einen neuen Workshop für Schüler:innen an, der bisher unbekannte Perspektiven aufzeigt, Kontexte vermittelt und nicht nur dabei hilft, sich eine Meinung zu bilden, sondern vor allem das Zuhören und genauer Hinschauen in den Mittelpunkt rückt.

Seit der Gründung der museumspädagogischen Abteilung „Kommunikation & Vermittlung“ im Jüdischen Museum Wien werden Programme und Vermittlungsangebote entwickelt, angeboten und konsumiert, die sich auf unterschiedliche Weise kreativ wie methodisch mit jüdischer Geschichte und Kultur in Wien, Österreich, Europa und der Welt auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung ist immer ein Dialog – in erster Linie zwischen den Workshopteilnehmer:innen und Vermittler:innen, aber auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Vergangenheit der Dinge und die Gegenwart des Museums bilden die beiden Pole: Die Gegenwart ist das „Hier“, die Tagesverfassung, das Wetter, die Herkunft, der Schul- und Wohnbezirk, Freundschaften, Liebe, Hobbies, Alltagsstress und Sorgen. „Dort“, das ist die zeitlich entfernte Vergangenheit, die geografisch entfernte Lage und vorerst meist unbekannte Biografien und Begriffe. Der neue Workshop „Lost in Nahost?“ verbindet das eine mit dem anderen. Auf der Zeitreise durch die Dauerausstellung des Museums in der Dorotheergasse treffen wir zum Beispiel Simon Wiesenthal, der 1981 dachte, er würde sich mit einer Waffe in Wien sicherer fühlen, Harry Weber, der als Jugendlicher von Klosterneuburg nach Palästina floh und bewaffnet zurückkam, Bilal Talit, die als Fluchthelferin tätig gewesen war und 1948 Moshe, der als Hebräischlehrer nach Saalfelden gekommen war, im dortigen Displaced Person Camp heiratete. Wir erfahren von jüdischen Burschen, die 1940 in Waidhofen Landwirtschaft übten und hofften, nach Palästina auswandern zu können, aber alle deportiert wurden. Wir sehen, was Ludwig August Frankl, der Arzt, Archivar und 1848er Revolutionär war, von einer Reise nach Palästina für das erste jüdische Museum der Welt nach Wien mitbrachte. Tora-Schmuck aus dem Jahr 1741 führt uns in den türkischen Tempel in Wien, aber auch ins osmanische Jerusalem. Dieser breit gespannte Bogen soll vor allem vermitteln: Man muss erst einmal genau hinsehen. Das betrifft Dinge, Menschen, Orte, Konflikte, Streitfragen, Positionen. Man muss aber auch genau hinhören, damit die verschiedenen Perspektiven und Dimensionen, aus denen Museumsstücke zu den Betrachter:innen sprechen, erfahrbar werden.

Der neu konzipierte Workshop „Lost in Nahost?“ wird ausgehend von einer aktuellen Landkarte, auf der als Erstes das geografische Hier und Dort gefunden werden soll, die Workshopteilnehmer:innen durch die drei Stockwerke der Dauerausstellung führen. Die Kleingruppen erhalten Fotos, auf denen jeweils ein Objekt zu sehen ist, das man in der Ausstellung finden soll. Dieses Foto macht es den Gästen allerdings nicht leicht, denn es zeigt immer nur einen Teil des Ganzen. Der gemeinsame Rundgang erklärt dann das jeweilige Objekt, seinen historischen Platz und die womöglich dahinter liegende Biografie. Die Deutung dieser historischen Quellen, nichts anderes sind die Museumsobjekte, führt zu einer Auseinandersetzung mit den historischen und politischen Dimensionen eines Konflikts, der nicht am 7. Oktober 2023 begonnen hat. Die einzelnen „Schnipsel“, die die ausgewählten Objekte zeigen, werden von den Teilnehmer:innen zusammengesetzt und ergeben drei unterschiedliche historische Landkarten, die verdeutlichen, dass nicht nur der Konflikt älter ist, sondern auch die komplizierte Geschichte der Region.
Auf diesem Vermittlungsprogramm steht nicht in großen Buchstaben WIRKT GEGEN ANTIMEMSITISMUS oder LÖST DEN NAHOST-KONFLIKT. In größeren Buchstaben steht allerdings darauf: man muss genau hinschauen, genau zuhören, sich eine Meinung bilden, andere Meinungen und unterschiedliche Betroffenheiten aushalten lernen und miteinander reden.

Wir empfehlen dieses Vermittlungsangebot für Schüler:innen ab der Mittelstufe.

Im Rahmen einer Führung für Lehrer:innen stellen wir dieses Vermittlungsprogramm vor.

*Podcast-Titel des Bayrischen Rundfunks, 2023