22. März 2024
Unter der Lupe

Mehr Arbeit für mehr Sichtbarkeit: Frauenwoche und Women’s History Month am JMW

von Barbara Staudinger & Hannah Landsmann
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Der 8. März ist auch und gerade für das Jüdische Museum Wien ein besonderer Tag: Nicht nur haben sich Jüdinnen weltweit in der Frauenrechtsbewegung engagiert (und tun es noch) und so etwa das Frauenwahlrecht erstritten, auch ist unser Team mehrheitlich weiblich. Wir haben daher nicht nur sehr gerne die Initiative von Kulturstadträtin Veronika Kaup-Hasler, den Internationalen Frauentag auf eine Frauenwoche auszudehnen, aufgenommen, sondern haben uns auch auf unsere Aktivitäten im Women’s History Month gefreut (und tun es jetzt noch).

Zwei Wochen haben wir nur Frauen sprechen lassen und nur Geschichten von Frauen erzählt. In der Vermittlung, bei Veranstaltungen, in unseren Kommunikationskanälen. In diesen zwei Wochen haben wir (noch mehr als ohnehin bekannt) gelernt, wie unsichtbar Errungenschaften und Engagement von Frauen oft sind, wie sogar ihr Kampf im Widerstand mit Phrasen wie „Mithilfe“ kleingeredet wird, wie wenig die Öffentlichkeit über Frauen im Judentum oder jüdische Frauen abseits von Klischees und Stereotypen weiß. Wir haben gesehen, dass es noch viel mehr als diese zwei Wochen braucht, aber wir haben auch gemerkt, dass das ganz schön viel Arbeit macht: Geschichten müssen recherchiert werden, Vermittlungsprogramme gefunden, Veranstaltungen konzipiert und organisiert und Videoclips und Postings produziert werden. Mehr Arbeit von Frauen für mehr Sichtbarkeit für Frauen: Dabei darf es nicht bleiben. So werden wir in Zukunft auch und ganz besonders unsere männlichen Kollegen in aller Solidarität einbinden – und freuen uns schon darauf.

Als ein ganz besonderes Beispiel der vielen Geschichten, die wir in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren erzählen wollen, hat Hannah Landsmann die Geschichte von Ilse Mezei recherchiert:
Ilse Mezei erstritt nicht das Wahlrecht, sie war keine Aktivistin, keine Widerstandskämpferin und wurde nicht berühmt. Sie kam am 13. Mai 1924 in Wien zur Welt und starb am 12. März 1945 in dieser Stadt. Sie hatte nicht einmal genug Zeit, ein normales Leben führen zu können. Auch deshalb, nein, gerade deshalb, widmen wir ihr diesen Beitrag.

Ilse war die Zwillingsschwester von Kurt, ihre Eltern Margarethe und Moritz bzw. Maurus Mezei arbeiteten als Journalisten, Schriftsteller und Übersetzer. Die kleine Familie lebte einige Jahre im Karl-Marx-Hof in der Heiligenstädterstraße 82 im 19. Wiener Gemeindebezirk. Ilse hinterließ u.a. zwei Tagebücher aus den Jahren 1941 und 1942 sowie einen Taschenkalender aus dem Jahr 1945, in den sie sehr knapp die Vorfälle des Tages notierte und die Uhrzeiten der Fliegeralarme. Aus den beiden Tagebüchern wird ihr Alltag erfahrbar. Wann sie wen traf, wann sie einkaufen ging, was sie mit den Freund:innen im „Grabeland“ erlebte, was sie bei Frau Meiselmann nähte, wann sie in den Tempel in die Seitenstettengasse ging und wem sie dort begegnete, mit wem sie spazieren ging und in wen sie gerade verliebt war. Das „Grabeland“ war eine unverbaute Fläche in der jüdischen Abteilung des Zentralfriedhofes, der einzige Ort in Wien, an dem jüdische Jugendliche ein kleines bisschen Normalität erleben konnten. Im Gras liegen, in die Sonne schauen, Gemüse anbauen und ernten.

Ilse schrieb fast nur Fakten auf, ihre persönlichen Gedanken vertraute sie den Büchern kaum an. Ihre Mutter Margarethe war die einzige der Familie Mezei, die die Schoa überlebte. Ihr Mann Moritz verließ Wien und versuchte die Familie zu retten. Er wurde in Italien verhaftet, im Lager Urbisaglia inhaftiert und von dort nach Auschwitz deportiert, wo er 1944 ermordet wurde. Margarethe und die beiden Kinder waren in der Kultusgemeinde und später im sogenannten Ältestenrat angestellt. Nach der Auflösung der Israelitischen Kultusgemeinde Anfang November 1942 wurde diese Institution als Vertretung der noch in Wien lebenden Jüdinnen und Juden eingesetzt. Als Verein übernahm der Ältestenrat zwangsweise die Tätigkeiten der aufgelösten Kultusgemeinde. Im Gebäude Seitenstettengasse 4, wo sich auch der Stadttempel befindet, waren Büroräumlichkeiten vorhanden, in denen Margarethe Mezei und die beiden Kinder arbeiteten. Ilse war Telefonistin, ihr Bruder wurde zu verschiedenen technischen Diensten eingeteilt.

Abgesehen von den Tagebüchern der Geschwister Kurt und Ilse finden sich eine große Menge anderer Archivalien im Nachlass der Familie Mezei. Familienfotos, die Hochzeitseinladung der Eltern, Babyfotos, eine Art Buchhaltungsbuch zu den Tätigkeiten der Eltern, ein Adressbuch, in das Ilse die neuen Anschriften ihrer ausgewanderten Wiener Freund:innen notierte, Fotos aus dem Zwi Perez Chajes Gymnasium, das die beiden Kinder besuchten und ein recht ungewöhnlicher Brief: Ilse schreibt an den „Santo Padre“ und bittet den Papst, ihren Vater aus dem Lager zu befreien. Sie führt am Schluss an, dass er im Ersten Weltkrieg gedient hat. Diesen Brief unterschreibt sie und setzt neben ihren Namen ein „und“. Ob Kurt das Schriftstück je gesehen hat, ob er seiner Schwester diese Idee ausredete? Der Brief wurde jedenfalls nie verschickt.

Unter den hunderten Archivalien, welche sich zur Familie Mezei in der Sammlung des Jüdischen Museums Wien befinden, fallen einige Blätter besonders ins Auge. Auf diesen entwirft Ilse, wie sie sich Mode vorstellt – zum Ausgehen, zum Spazierengehen, für einen speziellen Anlass oder einfach so. Was hätte Ilse Mezei sein und werden können? Unter anderen, besseren Umständen hätte sie Mode studiert und eine Karriere gemacht. Heute wäre „Mezei“ vielleicht eine Marke. Sie hat es nicht geschafft. Sie durfte als Jüdin nicht in den Luftschutzkeller und kam am 12. März 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben. Ihr Bruder Kurt wurde am 12. April 1945 in der Förstergasse 7 in einen Bombenrichter getrieben und gemeinsam mit anderen jüdischen Frauen und Männern ermordet.

Der Familiennachlass Mezei gelangte 1994 über Hans Neufeld, den Bruder von Margarethe Neufeld, zuerst an das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und von dort in die Sammlung des Jüdischen Museums Wien. Margarethe Mezei starb 1993 in Wien. Sie hatte alle Kraft aufgewandt, ihre Familie zu retten. Sie hat es nicht geschafft.

Seit der Ausstellung „Papier ist doch weiß? Eine Spurensuche im Archiv des Jüdischen Museums Wien“ im Jahr 1998 bieten wir einen Workshop für Schüler:innen an, der Kopien und Fotos der Archivalien des Nachlasses der Familie Mezei bereitstellt, um die jungen Gäste mit Kurt und Ilse Mezei bekannt zu machen. Dieses Vermittlungsprogramm haben wir seither nicht verändert und es wird nach wie vor von Lehrer:innen gebucht. Kurt Mezei wird uns dabei bekannter und rückt uns näher, einfach weil er viel mehr geschrieben hat. Wir kennen sogar seine Lieblingslieder und wissen, welche Bücher ihm gefallen haben. Weil man beim Suchen auch Geschichte(n) finden kann, werden wir das Suchen nicht aufgeben und unser Repertoire an Vermittlungsangeboten und um Geschichten erweitern, die nicht berühmt oder nicht einmal bekannt werden konnten.