06. Mai 2021
Unter der Lupe

Sehr geehrter Herr Doktor ...

von Hannah Landsmann
© JMW
Sehr geehrter Herr Doktor,

Lebenden zum Geburtstag alles Gute zu wünschen, ist allgemein üblich, als Erkunder der Seele wird es Ihnen wohl aber nicht besonders seltsam vorkommen, dass man Toten Briefe schreibt?

Im Inventar des Jüdischen Museums Wien lassen sich zu Ihrer Person 29 Einträge finden. Das ist wenig, wenn man bedenkt, dass Sie wirklich berühmt sind. Nun haben Sie gleich zwei eigene Museen, in der Wiener Berggasse und in Maresfield Gardens in London. Ihr Wiener Zuhause hatte die Hausnummer 19, in London ist es die 20, womöglich hat das keine Bedeutung. Das berühmte Sofa steht in London und auch die Bauernmöbel aus Hochrotherd, die Sie und Ihre Tochter Anna auf Ihrer Flucht aus Wien jedenfalls mitzunehmen wünschten. In einem im Londoner Museum verwahrten Fotoalbum finden sich unter einem Foto des Wochenendhauses und einem zweiten mit einem geöffneten Schrank neben der Jahreszahl 1931 folgende gereimte Bildunterschriften:

„Doch mehr als dieses ist uns wert das Haus der Zukunft Hochrotherd.“

„Und zum Gedenk entnehmen wir aus diesem Schrank Glas und Geschirr.“

Herr Doktor, beim Schreiben von Briefen kann man Menschen anreden, die nie zu einem sprechen würden. Sie werden nicht antworten, so dass der Austausch etwas einseitig anmutet, aber auf Grund der Umstände anders gar nicht möglich ist. Beim Schreiben kann man Menschen näherkommen, auch wenn diese Nähe nicht auf Gegenseitigkeit beruht.
 

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Sie sind ebenfalls in der Dauerausstellung „Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute“ seit 2013 im Jüdischen Museum Wien vertreten.

Es wäre interessant zu wissen, ob Sie sich als Teil der Andy Warhol Serie „Jewish Geniuses“ mögen? Oder ob Ihnen das Portrait von Wilhelm Viktor Krausz mehr behagt? Dieses 1936 entstandene Oeuvre wurde 2019 von den FREUNDEN des Jüdischen Museums Wien erworben und ist anstelle des Siebdrucks von Andy Warhol ausgestellt.


Große Freude bereitet es dem Team der Kulturvermittlerinnen und Kulturvermittler Sie als Fingerpuppe vorstellen zu dürfen. Die „Action Figure“ sowie Sie als Puppe aus weichem Plüschstoff und eine Fingerpuppe samt Sofa sind ausgestellt. Eine weitere Fingerpuppe lassen wir heute nach Wien reisen. Sie werden zum Touristen, für Sie soll ein Lieblingsobjekt im Museum gefunden werden und ein Ort, wo Sie übernachten, wenn Sie ein paar Tage in „Ihrer“ Stadt verweilen. Sie wohnen im Hotel Sacher, in einem über Airbnb organisierten Appartement, eine Dachterrasse muss nicht unbedingt sein, oder aber in Ihrer alten Wohnung in der Berggasse im 9. Bezirk, wo sich auch die Ordination befand. Die Idee mit der alten Wohnung hatte ein Schüler aus einer Höheren Technischen Lehranstalt in Ried im Innkreis. Wir spielten das Gespräch zwischen Ihnen und der Museumsdirektorin durch, die nach dem ersten Schrecken, Sie in ihrem Museum anzutreffen, die aus ihrer Sicht brillante Idee hatte, Sie in die Ausstellung zu integrieren, Sie könnten die Besucherinnen und Besucher womöglich therapieren? Jedenfalls würde sie, die Direktorin, mit ihrer Marketing-Abteilung Rücksprache halten müssen.



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Sie waren keineswegs erfreut über diesen Vorschlag und antworteten, dass Sie kein Museumsobjekt seien, sondern nur ein paar Tage in Ihrer ehemaligen Wohnung bleiben wollten, das sei ja nun nicht zu viel verlangt. Diese Worte legte Ihnen ein Schüler aus der oben erwähnten HTL in den Mund.

Sehr geehrter Herr Doktor, was meinen Sie? Wie soll in Zukunft Geschichte unterrichtet werden? Was soll Kulturvermittlung an außerschulischen Lernorten beitragen? Was genau will eigentlich Holocaust-Education? Hilft sie Antisemitismus zu bekämpfen? Wen werden wir fragen, wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nichts mehr sagen können? Muss man eine Gedenkstätte besucht haben? Ja, vielleicht. Und für Sie ein Lieblingsobjekt im Jüdischen Museum Wien finden. Jedenfalls. Oder Ihnen einen Brief schreiben. Kreativität benötigt auch Courage…...